Müller Johanne

Müller Johanne 

 

Autor/in Christa Bachmann
aus Vereinszeitung SAW 11

 

Scherenschnittforscherin – Sammlerin. Scherenschneiderin

Johanne Müller, geb. 1910 in Chemnitz, war schon als Kind musisch interessiert. Nach der mittleren Reife (1926) konnte jedoch, trotz bestätigter künstlerischer Begabung, wegen fehlender Studienmittel kein regelrechtes Kunststudium aufgenommen werden. Es kam nur ein „Brotberuf“ in Betracht; sie arbeitete als Sekretärin. Neben der Berufstätigkeit betrieb Johanne Müller intensive Kunststudien und Zeichnen bei Syers und im Chemnitzer Aktclub bei Kuntze und Bernhard – vom ansässigen Maler O.Th.W. Stein kontrolliert. Auch war sie bekannter „Stammgast“ im Städtischen Museum Chemnitz.

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1946 wurde sie nach Prüfung ihrer künstlerischen Arbeiten durch die Kommission des Kulturbundes, in dem die Künstlerverbände seinerzeit verankert waren, zur freischaffenden Tätigkeit als Malerin und Zeichnerin zugelassen und erhielt auch vom damaligen Volksbildungsamt eine Unterrichtsgenehmigung. Nach erfolgreichen Ausstellungsbeteiligungen, unter anderem in der „Mittelsächsischen Kunstausstellung“ 1948, wurde ihr die Betreuung des Graphikkabinetts der Städtischen Kunstsammlung angetragen. Trotz guter Verdienst-möglichkeiten in der Oberschule und Industrie nahm sie das Angebot, pro Woche 26 Stunden
zu arbeiten (für ein Taschengeld pro Stunde -,91 M), kurz entschlossen an. Am 1. Februar 1950 erfolgte die VolIeinsteIlung; die freischaffende Tätigkeit gab sie auf. Im Laufe der Jahre gelang es Johanne Müller, die Graphiksammlung bedeutend zu erweitern und durch über 100 Sonderausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich und beliebt zu machen.

Ein ausführlicher Bericht über die weitere Entwicklung und Wirkungsweise der erfolgreichen,
seit 1.2.1950 bestätigten Leiterin des Graphikkabinetts, dank ihres Talents, ihres persönlichen Engagements sowie ihrer enormen Ausstrahlungskraft wurde an dieser Stelle zu weit führen, soll doch Johanne Müller als Scherenschnittforscherin herausgestellt werden. Bereits im Jahre 1951 begründete sie die Arbeitsgruppe „jugendliches Laienschaffen“, denn sie verstand es vorzüglich, junge Leute ins Museum zu bewegen. Dadurch wiederum ergab sich ihre erste Begegnung mit Scherenschnitten der jüngsten Gegenwart (von Christa Bachmann und Luise Neupert). Neugierig geworden beschloß sie, sich diesem seltenen und noch wenig erforschten „Randgebiet der bildenden Kunst“ als weiterer persönlicher Nebenaufgabe zuzuwenden. Ihr enormer Forscherdrang und Sammeleifer, der durch die Position im Museum und die Unterstützung vom Museumsdirektor begünstigt war, brachte unerwartete Ergebnisse zutage. Oft sprach sie davon, wie „das Material“ zu „quellen“ begann. So konnte sich nach unermüdlichen Recherchen und unglaublich zahlreichen Korrespondenzen in alle Richtungen des Landes, mit vielen kostbaren Leihgaben und persönlichen Ankaufen bereits im Jahre 1954 eine ganz bedeutende Ausstellung „Schattenbilder und Scherenschnitte“ im Schloßbergmuseum Chemnitz zeigen.

Der dazu von ihr erarbeitete Ausstellungskatalog gab einen Einblick in die Geschichte des Schattenbildes und Scherenschnittes sowie Hinweise auf das Gegenwartsschaffen. Die Ausstellung selbst war ein großer Erfolg und fand eine erstaunliche Resonanz beim Publikum und in der Presse. Man muß dabei bedenken, daß Johanne Müller mit ihren Forschungen zur Geschichte des Scherenschnittes und der Planung dieser Ausstellung im wahrsten Sinne des Wortes bei Null anfangen mußte: Die Veranstalter waren zur Gänze auf Leihgaben angewiesen! Der ersten Ausstellung folgte nach 10 Jahren 1964 eine zweite große Veranstaltung in den Räumen des Städtischen Museums am Theaterplatz, die wiederum sehr große Beachtung fand. Hier konnten neben den historischen Schnitten bereits Ergebnisse der inzwischen (1962) von Gerd Zimmer, Johanne Müller und Christa Bachmann gegründeten Scherenschnittgruppe gezeigt und das Gegenwartsschaffen stärker betont werden als 1954.

Ergänzt und bereichert wurde die Schau durch je eine Kollektion chinesischer und polnischer Scherenschnitte. In einem Brief (August 1964) an den Direktor der Städtischen Kunstsammlungen äußerte sich der damalige Direktor des Staatlichen Museums für Volkskunst Dresden, Dr. Manfred Bachmann, dazu wie folgt: „Während meines letzten Besuches in Karl-Marx-Stadt habe ich mir die Scherenschnittausstellung angesehen. Ich möchte für diese ausgezeichnete Dokumentation dieses wichtigen Gebietes der Volkskunst herzlich gratulieren. Nach meiner Kenntnis ist das die repräsentativste Ausstellung, die zu diesem Thema in den letzten Jahren in der DDR und der Bundesrepublik stattfand. Mit welcher Sorgfalt die Kollegin Müller das Material zusammengestellt hat, ist bewunderungswürdig“.

Im städtischen Museum war man an der Einrichtung einer speziellen Abteilung „Scherenschnitte“ nicht interessiert. Es blieb bei wenigen Ankäufen von Originalscherenschnitten (Luise Neupert, Christa Bachmann, Anneliese Krannich, Gudrun Beier, Emil Lohse). Johanne Müllers dicke Korrespondenzmappen zum Thema „Scherenschnitt“ weisen aus, daß der Briefwechsel mit Sammlern und Scherenschneidern bzw. ehemaligen Leihgebern und anderen Interessenten nicht abriß, viele Beziehungen über Jahre aufrecht erhalten blieben und sogar Freundschaften daraus erwuchsen. Gedacht ist besonders an Professor Fritz Griebel / Nürnberg, an die Forscherin und Scherenschneiderin Hede Steidtmann / Erlangen, Familie Allmüller / Bamberg und Annemarie Blohmer / Weimar. Zwei Zitate aus den vielen Briefen des erzgebirgischen Altmeisters Max Pickel, welche die Persönlichkeit Johanne Müllers besonders kennzeichnen, seien hier wiedergegeben: Dez. 1961 – „Unter allen stehen Sie mir durch Ihre unbestreitbare Sachkenntnis und Aufnahmefähigkeit mit wenig Auserlesenen so herzlich nahe, daß jedes Blatt, das aus meiner Hand geht, den Wunsch laut werden läßt, das müßte Sie sehen! Und dabei haben wir uns doch nur eine knappe Stunde gegenüber gesessen.“ Jan. 1975 (nach seinem 91. Geburtstag) – „Wir sind Ihnen dankbar, denn Sie sind in tätiger Anteilnahme mit meinem Schaffen und Streben einbezogen in unsere Lebensentwicklung im reiferen Lebensalter.“

Dank der ausgeprägten musealen Veranlagung Johanne Müllers finden sich alle ihre Dokumentationen und Publikationen in ihrem persönlichen Nachlaß. Johanne Müller war eine ausgesprochen kreative, vielseitig begabte Persönlichkeit mit viel Menschenkenntnis. Welch anregenden Einfluß sie auf unsere gemeinsame Scherenschnittarbeit nahm, läßt sich leicht denken. Sie fühlte sich in erster Linie als Beraterin der Gruppe, und wenn Anschauung und Anregung not tat, schöpfte sie mit Freude aus ihrem unübersehbaren Sammelfundus. Die aktive Schneidearbeit stand nicht an erster Stelle. Ihre diesbezüglichen Bemühungen zielten vor allem auf Einfachheit der Formen und der Schneidetechnik, wenn sie schon mal die Schere zur Hand nahm. Ihre Vorliebe galt Experimenten mit dem Klapp- oder Verwerfschnitt.

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Zu gemeinsamer ThemensteIlung leistete sie stets ihren Beitrag, der immer sehr großzügig ausfiel. Außerdem war sie eine Meisterin der textilen Applikation, meist in kleineren Formaten, die reizend, kostbar und voller Phantasie waren. Ihre Sammlung von historischen und zeitgenössischen Scherenschnitten, von Dokumentationen zu Ausstellungen sowie ihre Scherenschnitt-Bibliothek ist wesentlich umfangreicher, als die Mappe mit ihren eigenen Arbeiten. Als Redaktionsmitglied der Fachzeitung „Bildnerisches Volksschaffen“ berichtete sie neben Arbeitsergebnissen der Scherenschnittgruppe auch über die künstlerische Tätigkeit erfolgreicher Textilgestaltungsgruppen, über Ausstellungen und dergleichen. Sie benötigte sehr viel Zeit zum Schreiben. Ihre Schwester IIse ermöglichte ihr ständig ein völlig freies Schaffen durch die Abnahme jeglicher Haushaltsarbeit. Der Schwester kommt damit ein nicht geringer, aber nie genannter Anteil an Johanne Müllers Erfolgen zu. Man muß sich vorstellen, daß ihre Schreibmaschine meist neben dem Bett stand und viele Gedanken vor dem Einschlafen oder dem Aufstehen im Liegen schnell in die Maschine getippt wurden. Die ansehnliche Liste ihrer Veröffentlichungen zeugt von der fleißigen Arbeit Johanne Müllers als Autorin. Mein Beitrag kann nur einen kleinen Einblick geben in das schaffensreiche, erfüllte Leben einer ungewöhnlichen Persönlichkeit, die auf dem Gebiet unseres gemeinsamen Anliegens Pionierarbeit geleistet hat und der unsere Wertschätzung gebührt.

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Erzgebirgisches. Einachsiger Faltschnitt aus rotem Papier. 1974. 

Auszug aus der Veröffentlichungsliste Johanne MüllersMüller, Johanne: Schattenbilder und Scherenschnitte. Schloßbergmuseum, Ausstellungskatalog. Karl-Marx-Stadt 1954.
1. Fritz Griebel Papierschnitte. Städt. Kunstsammlungen, Ausstellungskatalog. KarlMarx-Stadt 1957.
2. Schattenbilder und Scherenschnitte. Verlag der Kunst Dresden 1959.
3. Der Scherenschnitt – eine praktische Anleitung. 4. Auflage, E. A. Seeman Verlag Leipzig 1982.
4. Der Faltschnitt und seine Anwendungsmöglichkeiten. Zentralhaus für Volkskunst Leipzig 1965.
5. Der alte und der neue Papierschnitt im Erzgebirge. Sächsische Heimatblätter 1970, H.6.
Weitere Literatur siehe: Bachmann, Christa: Geschnittene Handschriften. Dresden 1994.


 

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