Man ist glücklich, wenn man eine Liebhaberei hat (Goethe)
Eine Frau sieht aus dem Fenster. Der Blick aus dem Fenster ist der Blick in eine neue Umgebung. Die Frau ist gesundheitlich nicht auf der Höhe. Deshalb hatte sie beschlossen, in die Nähe ihrer Tochter nach Lindenberg im Allgäu zu ziehen und ihrer Heimat, der Steiermark, den Rücken zu kehren. Eine gute Entscheidung. Mit der gesundheitlichen Besserung kehrten die Lebensgeister zurück und damit die Freude an der Arbeit mit Papier und Schere. Das war im Jahr 2001. An der Scherenschnittausstellung im Herbst 2002 in Eisenstadt (Burgenland/ Österreich) beteiligte sich die Frau bereits wieder mit sehr schönen Arbeiten. Die Rede ist von Ingeborg Fleckseder.
Sie wurde am 31. Dezember 1917 in Hieflau in der Steiermark/Österreich als Tochter des Lehrerehepaares Bauernberger geboren. Nach der Matura (Abitur) 1936 folgte von 1936 bis 1941 das Lehramtsstudium für Gymnasien und Höhere Schulen in den Fächern Leibesübungen und Geographie. 1941 schloss Ingeborg Fleckseder ihr Studium mit der Lehramtsprüfung ab und unterrichtete an einem Gymnasium in Wien. 1942 heiratete sie den Diplomingenieur Dr. Hermann Fleckseder. 1943 bekam sie ihr erstes Kind und war lange in Karenz. Noch vor der Geburt des zweiten Kindes bat sie um die Entlassung aus dem Schuldienst. Die mehrfache Mutter, mittlerweile Großmutter und Urgroßmutter, hat sich zeitlebens, trotz der vielen familiären Pflichten, stets künstlerisch betätigt. Durch den Scherenschnitt hat sie, insbesondere nach Krankenhausaufenthalten, Mut und Kraft geschöpft.
Wegen der Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre sowie aus beruflichen Gründen lebte Ingeborg Fleckseder mit ihrer Familie in Liezen, Kempten und in Liestal in der Schweiz und erst ab 1960 wieder in Wien, bis 1974 die Berufung ihres Mannes als ordentlicher Professor für Maschinenbau an die Montan-Universität in Leoben in der Steiermark kam.
Ingeborg Fleckseder, von der Republik Österreich zur Magistra (Mag. Phil.) ernannt, hat schon als Kind gerne gezeichnet und gemalt. Im Gymnasium hatte sie einen ausgezeichneten Lehrer, der ihr Talent frühzeitig erkannte und entsprechend förderte. Sie besitzt einen ausgeprägten Sinn für Natur, weshalb sie schon früh Pflanzenmotive in Scherenschnitte umsetzte. Die meisten ihrer Scherenschnitte verschenkte Ingeborg Fleckseder oder stiftete sie für karitative Zwecke. So ist leider nur wenig im Besitz der Künstlerin geblieben. Lediglich in Buchillustrationen sind Drucke ihrer Scherenschnitte komplett dargestellt. Erst 1973 wurde der erste Siebdruck nach einem Scherenschnitt angefertigt, Kopierer gab es noch nicht.
Das Schlüsselerlebnis, das ihre Liebe zum Scherenschnitt weckte, war ein altes Bilderbuch ihrer Mutter mit Kindersprüchen und schwarzen Bildern. Von ihren Eltern bekam sie viele Ausschneidebögen. Ein Plischke-Kalender machte großen Eindruck auf das Kind. Kontakte zu anderen Scherenschnittkünstler hatte Ingeborg Fleckseder all die Jahre nicht. Sie war in ihrer Umgebung die einzige, die in dieser Technik arbeitete. Ihr Interesse galt aber auch der Malerei, dem Seidenmalen, das sie auch heute noch interessiert, Töpfern, Handweben von Bildern, den „Stenzelarbeiten“ (mit selber angefertigten Schablonen für Stoffbemusterung) und dem Gestalten von Ostereiern mit Scherenschnitten und Malerei. Einige hundert Steine hat sie aus dem Fluss Enns (Ennstal/Steiermark) gesammelt, mit unterschiedlichsten Motiven bemalt und als Briefbeschwerer, Handschmeichler, Wärmesteine verschenkt oder an Bazare für wohltätige Zwecke hergegeben.
Aus dem liebevollen Blick zur Natur ergab sich auch die Freude, Blumen zu stecken und Arrangements aus Trockenblumen zu machen. Für alle vier Kinder hat sie je ein Tafelservice mit jeweils eigenem Motiv bemalt. Frau Fleckseder hat für das Haus ihrer Tochter Helga in Graz die Motive der Kacheln für einen Kachelofen geritzt (Technik: in feuchtem Ton mit einer „stumpfen“ Spitze über Plastikfolie Muster ritzen. Durch das sofortige Aufstellen im Brennofen nach dem Glasurauftrag auf die geritzte Kachel bilden sich Farbunterschiede, die das Motiv klar hervortreten lassen) und 50 Stück Kacheln (Fliesen) für die Küche mit Gewürzen und Heilkräutern bemalt. In der Nachkriegszeit war es unumgänglich, die Kleider für die Kinder selbst zu nähen, und trotzdem ist noch Zeit geblieben für den Scherenschnitt. Aus der intensiven Beobachtung der Natur entstanden durch die künstlerische Begabung wertvolle Scherenschnitte. Die zeichnerische Linie verläuft harmonisch mit der Natur.
Ingeborg Fleckseder hat kaum einmal einen Scherenschnitt oder ein Buch verkauft. Eine kommerzielle Nutzung lag damals nicht in ihrem Interesse, vielmehr stellte sie ihre Arbeit in den Dienst der evangelischen Kirche. Über die Kirche fanden ihre Werke weitere Verbreitung. Die Familie staunte nicht schlecht über die wachsende Anerkennung der Scherenschnittarbeiten, die zunächst als Kartenserien aufgelegt wurden und immer wieder in Ausstellungen in Österreich, Deutschland und den Niederlanden zu sehen waren.
Zusammen mit der Autorin Liselotte Fischer entstand ein gemeinsames Werk, für das Ingeborg Fleckseder die Buchillustrationen anfertigte. Das erste Buch „Heiter bis Wolkig“ (Streiflichter aus dem Dasein einer österreichischen Pfarrfrau), das 1985 erschien, war ein großer Meilenstein im Leben der Künstlerin. Ein zweites Buch mit Scherenschnitt-Illustrationen, „Oban Tal“ (Mundartgedichte von Lieselotte Stauber-Gray), folgte 1986. Weitere Projekte waren Bilder zu einem Kalender und noch ein Buch, das Frau Stauber-Gray für die Roseggergemeinschaft als Anthologie herausgab. Heute empfindet es Ingeborg Fleckseder als großes Geschenk, mit ihren fast 90 Jahren immer noch die Natur wahrnehmen zu dürfen, in Schnitte umsetzen zu können und mit dieser Liebhaberei anderen Freude zu bereiten. „Helfen ist keine Einbahn, der Segen kommt zurück“!
Tausende Scherenschnitte hat Ingeborg Fleckseder geschaffen. Die Themen und Inhalte sind vielseitig, im Vordergrund steht der Bezug zur Natur und zum Brauchtum im Jahresverlauf – gegenständlich, aber doch in eine eigene Ausdrucksform und künstlerische Sprache umgesetzt. Im Schwung einer Landschaft, in der verspielten Darstellung des Rasens vor einer Kapelle, im Gesicht von Figuren erkennt man eine starke Persönlichkeit mit Phantasie, Humor und Ironie. Die Linien sind locker und würden womöglich in weiteren intensiven Schaffensjahren in die Moderne führen. Aber: “Was heißt Moderne? Ich mag mich nicht einer Mode beugen, ich will es nach meinem Gefühl halten“.
Autor(in) Ingrid Englert-Fally
Die Familie war nicht in Kempten im Allgäu sondern in Kematen bei Innsbruck in Tirol.
Mit lieben Grüßen
Mag. Herta Fleckseder