24.02.1892 in Yokohama
04.08.1986 in Lich
Der Begriff „Schattenschnitter“, geprägt vor 85 Jahren von seinem Freund Hans Schiebelhuth, dem Darmstädter Schriftsteller, zeigt, worauf es Engert in seinem Werk ankommt: den flüchtigen Schatten aus zuschneiden, ihn zu bannen. Bisher wurden häufig die Schattenbilder in Engerts Leben, die einprägsamen, die herausragenden und ungewöhnlichen Situationen, dargestellt und weiterverbreitet, selbst wenn sie nur in Legenden wurzelten. Daher die typischen „Engert-Anekdoten“, von denen viele einer Nachprüfung nicht standhalten. Doch ein Leben besteht nicht nur aus einer Vielzahl von Einzelsituationen, es besteht aus dem Fluss der Ereignisse, aus Kontinuität und Widerspruch. Engert selbst hat zur Aufhellung der Felder um die Schattenbilder wenig beigetragen, eher im Gegenteil. Er war ein Meister in Antworten, die die Frage umgingen oder dem Gespräch eine völlig andere Richtung gaben. Viele der Antworten waren so zweideutig, dass sie zum Ausgangspunkt von Legenden wurden. Das macht es schwierig, Dichtung und Wahrheit auseinander zu halten.
Im Zuge des Russisch-Japanischen Krieges kehrt die Familie nach Deutschland zurück, wohnt zunächst – ab 1902 – in Gera und zieht dann nach Rinteln an der Weser.
Dort besucht Engert das Gymnasium. Der Schüler interessiert sich besonders für alte Sprachen und Biologie und er zeichnet pausenlos. Zunächst sind Tiere seine Modelle. Dann kommt die entscheidende Begegnung mit einem Scherenschneider auf dem Jahrmarkt in Rinteln.
Sofort beginnt er mit eigenen Versuchen. Die Köpfe der Familie, besonders der seiner Schwester Dora, aber auch die der Mitschülerinnen und Mitschüler werden geschnitten. Es ist erstaunlich, wie schnell und präzise er die physiognomischen Besonderheiten der Darzustellenden erfasst und festhält. Es sind keine Abbildungen, sondern Darstellungen der Personen.
Der Berufswunsch „Künstler“ wird von den Eltern akzeptiert, sein ganzfiguriges Selbstbildnis als Maler mit Palette und Pinsel wird zum Programmbild.
Als die Familie von Rinteln nach Hadamar in das Haus der Familie zieht, geht er 1909 nach München.
Die Studienarbeiten und die Skizzenbücher zeigen einen fleißigen und begabten Studenten. Seine Liebe gilt weiterhin der Tier- insbesondere der Vogelwelt, aber auch der Darstellung des Menschen und seines Porträts. Die Arbeiten zeigen aber auch, dass außer handwerklichen Fähigkeiten wenig durch das Studium vermittelt wurde. Diese Arbeiten hätten so von vielen Studierenden und an verschiedenen Studienanstalten geschaffen werden können. Die entscheidenden Einflüsse für seine künstlerische Entwicklung kommen aus dem Kreis der Freunde in der Schwabinger Boheme-Szene, kommen aus dem Miteinander von Künstlern, Literaten, Schauspielern und gebildeten Nichtstuern. Anregende und weiterführende Orte sind die Ateliers, aber auch das Kabarett, die Künstlerkneipen und – nicht zu vergessen – die Künstlerpension Führmann.
Von größter Bedeutung ist aber auch der dauernde Austausch zwischen den Boheme-Zentren München und Berlin. Ist es in München der hochbegabte Maler und Zeichner Franz Seraph Henseler, der Engert die Wege ebnet, so bringt ihn der früh ertrunkene Schriftsteller Georg Heym in Berlin in den Kreis um Kurt Hiller mit dem „Neuen Club“ und dem „Neopathetischen Cabaret“.
Der Übergang aus dem ohnehin nur sporadischen Studium zum ungebundenen Boheme-Künstler ist fließend, muss aber schon um 1911 angesetzt werden. Die geradezu explosionsartige Entwicklung in seiner künstlerischen Arbeit zeigt die Tatsache, dass schon 1913 eine erste bibliophil aufgemachte Veröffentlichung mit sieben Zeichnungen im Verlag Bachmair in München erscheint.
Dieser ersten Veröffentlichung folgt schon 1914 ein Verzeichnis seiner grafischen Arbeiten aus der Feder des Kustos der „Königlichen Graphischen Sammlungen“, Konrad Weinmayer. Gleichzeitig erwerben die Sammlungen 19 Arbeiten von Engert, nicht so von Paul Klee, von dem Engert Arbeiten dorthin brachte, die Klee aber zurück bekam, wie er in seinen Tagebüchern schreibt.
In Berlin tritt Engert zweimal mit Schattentheater-Aufführungen im „Neopathetischen Cabaret“ auf. Alles in allem ein glänzender Start des jungen Künstlers.
Über seine Freunde Karl Otten und Franz Kiel lernt er August Macke kennen. Zusammen mit Franz S. Henseler und dem Schriftsteller Karl Otten zieht er im Sommer 1913 nach Bonn, wo August Macke lebt. Es kommt in Grau-Rheindorf zu einem Kunstsommer, der in der „Ausstellung Rheinischer Expressionisten“, Bonn gipfelt. Neben den genannten waren noch eine ganze Reihe rheinischer Künstler vertreten, darunter der damals noch völlig unbekannte Max Ernst. August Macke pflegte enge Kontakte nach Frankreich, insbesondere zu Robert Delaunay. So konnte über die neuesten Entwicklungen in der Kunst, Kubismus und Orphismus ebenso diskutiert werden, wie über die Experimente der italienischen Futuristen.
Für Engert beginnt eine Zeit des Experimentierens mit kubo-futuristischen Elementen, insbesondere in der Technik des Holzschnittes. Die Ergebnisse sind so bedeutend, dass man Engert in dieser und der unmittelbar danach folgenden Zeit, zur künstlerischen Avantgarde zäh.
Da bricht der 1. Weltkrieg aus und unterbricht viele Verbindungen und Beziehungen. August Macke fällt sehr bald, Franz S. Henseler stirbt 1918 an den Kriegsfolgen. Engert wird eingezogen und an der Westfront eingesetzt. Er wird verwundet und kommt über Frankfurt nach München zurück. Den Rest des Krieges spielt er Schattentheater an der künstlerischen Figurenbühne des 1. Ersatzbataillons des 2.Bayerischen Infanterie-Regiments. Mit den Einspielerlösen werden die Hinterbliebenen von Gefallenen unterstützt.
Die politischen Wirren nach dem Krieg gehen an dem unpolitischen Engert vorbei.
Viele seiner Freunde stehen an der vordersten Front der Räterepublik. So Erich Mühsam, der sie mit vorbereitete, und der Verleger Bachmair, der es zum Kommandanten der Roten Artillerie in Dachau brachte.
So liefert er das Titelblatt der Zeitschrift „Tribunal – Hessische Radikale Blätter“, die in Darmstadt erscheint sowie das Signet für Plakat und Katalog einer revolutionären Künstlergruppe, der „Darmstädter Sezession“ die er 1919 mit begründet. Seine Freunde, der Maler Carl Gunschmann und der Schriftsteller Hans Schiebelhuth, hatten ihn nach Darmstadt gebracht.
Aus dem Avantgarde-Künstler wird der Pressezeichner, Illustrator und Werbegrafiker. Dies ist keineswegs abwertend gemeint, denn das eine bedingt das andere, aber seine Arbeiten von höchster Qualität besetzen nun ganz andere Felder.
In Berlin bildet sich um Engert noch einmal eine Boheme-Künstlergruppe zu der unter anderen der Karikaturist Albert Schaefer-Ast und der später in Frankreich bekannte surrealistische Zeichner Hans Bellmer gehören.
Als er entlassen wird, geht er nicht nach Berlin zurück, sondern nach Hadamar.
Er zieht in das Haus am Herzenberg zu seiner Schwester Dora, die hier als Hebamme arbeitet. Sein Atelier richtet er in der leerstehenden Synagoge ein, die er erwerben kann. Er baut sich, unter erschwerten Bedingungen und ohne den inspirierenden Künstler-Freundeskreis, eine neue Existenz als Künstler auf. Er porträtiert, macht Werbe- und Gebrauchsgrafik und schneidet weiterhin seine lebendigen Schattenfiguren.
Der Versuch, auf Dauer an der neu entstandenen Glasfachschule mitzuarbeiten, schlägt nach einiger Zeit fehl.
Das aufkommende Fernsehen lässt seine alte Neigung zum Schattentheater wieder aufleben. Zusammen mit Schülern der Glasfachschule beginnt er Stücke einzustudieren, doch es fehlt an Kontinuität in der Mitarbeit und an den richtigen Beziehungen zu den Sendern und Produzenten. Das, was in München oder Berlin über den Künstler-Freundeskreis mühelos gelungen wäre, war hier in der Isolation nicht möglich.
So stirbt dieses mit viel Erwartung angegangene Projekt – in der breit angelegten Pressekampagne wird er plötzlich auch als Professor bezeichnet –, noch bevor es zum Probelauf kommt. Dass diese Sache durchaus eine Chance gehabt hätte, steht außer Zweifel. In der gleichen Zeit dreht seine Berliner Kollegin Lotte Reiniger verschiedene Silhouettenfilme.
So zieht sich Engert in sein Atelier zurück, arbeitet fast vergessen weiter, beobachtet mit Argwohn die Entwicklung der Kunst der Nachkriegszeit, die er für Bluff hält, und pflegt nur gelegentlich Kontakte nach außen.
In dieser Zeit verschlimmert sich ein seit langem bestehendes Augenleiden so sehr, dass er schließlich nur noch auf dem linken Auge und in einer Distanz von wenigen Zentimetern scharf sieht. Da er so kaum noch arbeiten kann, beginnt er damit, einen wesentlichen Querschnitt seiner Arbeiten in der Technik des Siebdruckes zu vervielfältigen.
Auch sein alter Freund Franz Kiel, inzwischen Vorstandsmitglied der Zellstoff-Waldorf AG und mit entsprechenden Beziehungen, drängte ihn ohne Erfolg.
Als ein Limburger Kunsthändler und ich 1966 die Idee hatten, ihm eine große Ausstellung zu widmen, mussten wir ihn fast zwingen mitzutun. Doch als die Ausstellung am 2. Mai 1966 eröffnet wird, ist er mit sich und uns zufrieden.
Engert stand in dieser Zeit mit dem Bonner Kunsthistoriker Ertel in Verbindung, der eine große Schau plante. Leider zogen sich die Vorbereitungen über Jahre hin und als dieser plötzlich starb, zeigte sich, dass die Vorarbeiten kaum zu verwenden waren.
Damals konnte ich Joachim Heusinger von Waldegg überzeugen, die Sache aufzugreifen und so kam nach unerhört kurzer Zeit eine Doppel Ausstellung im „Rheinischen Landesmuseum“ zustande, die das Werk von Ernst Moritz Engert und das seines Freundes Franz Seraph Henseler zeigte. Heusinger schrieb auch die ersten Monografien der Künstler, die den damaligen Kenntnisstand ohne Anekdoten wiedergeben.
Diese zwei Ausstellungen in Limburg und Bonn waren der Anfang der Wiederentdeckung des Künstlers Ernst Moritz Engert und seines Werkes.
Im Gefolge dieser Ausstellungen kam es zu der Stiftung eines Teiles seiner Arbeiten an die Stadt Limburg – wo sie bestimmender Teil der „Städtischen Kunstsammlungen“ sind –&Mac226; und der Einrichtung des „Ernst-Moritz-Engert-Museums“ in Hadamar.
Als Engert am 14. August 1986 in Lich bei seiner Tochter Ursula stirbt, ist das Werk der Öffentlichkeit zugängig und in seinen Teilaspekten Zug um Zug aufgearbeitet. So gibt es Übersichtskataloge, aber auch solche zu Spezialthemen wie „Engert und das Theater“, „Expressionismus in Bonn und Darmstadt“ oder „Boheme in München und Berlin“.
Die Bestände in den Städtischen Kunstsammlungen Limburg werden systematisch bearbeitet, hier liegen bisher die Bestandskataloge „Theaterblätter“ und „Figürliche Scherenschnitte“ vor.
Im Zuge der wissenschaftlichen Bearbeitung der Komplexe „Rheinische Expressionisten“ und „Darmstädter Sezession“ ist die Stellung Engerts in diesen Künstlergruppen inzwischen ebenfalls aufgearbeitet.
Wenn auch eine umfassende Monographie noch immer aussteht, so sind Person und Werk doch weitgehend in den bisherigen Publikationen behandelt.Abbildungsverzeichnis:
Abb. 1: Stadtmuseum Hadamar, abgebildet in: Im Gegenlicht – ein Schattenbild, Limburg 1992, S. 11
Abb. 2: Sammlung Hamm, Limburg, Zeichnung zu: Engert – Sieben Zeichnungen. Mit einem Nachwort von Karl Otten, München 1913, abgebildet in: Im Gegenlicht – Ein Schattenbild, Limburg 1992, S. 41
Abb. 3: Sammlung Hamm, Limburg, Variante zu einem Scherenschnitt von 1911, dieser abgebildet in: Im Gegenlicht – Ein Schattenbild, Limburg 1992, S. 25
Abb. 4: Sammlung Hamm, Limburg, abgebildet in: Im Gegenlicht – Ein Schattenbild, Limburg 1992, S. 51
Abb. 5: Städt. Kunstsammlungen Limburg, abgebildet in: Engert – Theaterblätter, Limburg 2000, S. 14
Abb. 6: Dokumentation des Darmstädter Expressionismus Claus K. Netuschil, Darmstadt, abgebildet in: Darmstätter Sezession – Kontakte zum Rheinischen Expressionismus 1919 – 1929, Bonn 1999, S. 2
Abb. 7: Städt. Kunstsammlungen Limburg, abgebildet in: Engert – Figürliche Silhouetten, Limburg 2002, S. 71, Nr. 104
Abb. 8: Privatsammlung Weber, Wendelstein, abgebildet in: Simplicissimus Nr. 32, 1926, S. 423
Abb. 9: Sammlung Hamm, Limburg, abgebildet in: Joachim Heusinger von Waldegg, E.M. Engert, Bonn 1977, S. 17 Nr. 18a
Abb. 10: Privatsammlung, Abb. in: Ernst Moritz Engert – Figürliche Scherenschnitte, Limburg 2002, S. 30
Abb. 11: Abb. in: Engert und das Theater, Limburg 1985 S. 79, Nr. 112
Wir haben nach dem Krieg am Herzenbergweg Hadamar mehrere Jahre bei M. Engert und Schwester Dora gewohnt. Er hatte immer Hunde, meist Afgahnen, denen es aber nicht sehr gut ging. Für die Prozession zu Himmelfahrt machte er jeweils einen riesigen, wunderschönen Teppich aus Blütenblättern. Wir Kinder hatten eher Angst vor ihm, denn ein freundlicher Mann war er nicht. Meinen Bruder hat er portraitiert, als Scherenschnitt. Darin war er genial. Später habe ich ihn, damals Glasfachschüler, mehrfach in der Synagoge besucht. Er war Menschen gegenüber stets sehr distanziert. Hadamar selbst war zumindest damals eine sehr spiessige Stadt, schwer erklärbar, was ihn dort gehalten hat.
Hallo Herr Schneider,
ja, die Scherenschnitte von Engert sind unerreicht. Aus einem Nachlass biete ich
2 Engert Scherenschnitte an zum Preis von € 350,00/Stück.
Sollten Sie daran interessiert sein, bitte ich um einen kurzen Bescheid.
Mit freundlichen Grüßen
U. Gottmann