Der Mensch in meinen Scherenschnitten
Nie habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie der „Mensch“ in meine Arbeiten gekommen ist. Er war einfach da. Um ihn drehte sich alles. Seinetwegen sind – vor allem nach 1970 – diese Arbeiten entstanden. Das bedarf wohl einer Erklärung.
1925 geboren, auf dem Land groß geworden, dort die Schule besucht. Nach preußischen, nicht allzu strengen Grundsätzen erzogen, lernte ich über die engste Heimat hinaus nicht viel kennen. Meine Eltern kauften ein Klavier, ich bekam erfolgreich Unterricht und las nebenbei sämtliche Bücher, die ich ergattern konnte. Außerdem zeichnete ich gern Pflanzen, Bäume, Gesichter. Scherenschnitte kannte ich nur aus Lesebüchern, von sehr zarten Laubsägebildern (mit Seide hinterlegt), ausgestanzten chinesischen und Plischke-Postkarten.
Dann brach 1939 der 2. Weltkrieg aus. Wir blieben in Mitteldeutschland weitgehend ungeschoren. 1942 schickte man mich auf eine Frauenfachschule, um etwas „Praktisches“ zu erlernen. Der Unterricht war hart. Wir sollten nicht nur tüchtige deutsche Hausfrauen werden. Schließlich herrschte Krieg. Die „musische Bildung“ rettete mich vor Depressionen. Jeder musste eine Jahresarbeit anfertigen. Ich wählte als Aufgabe (und weil ich sie über alles liebte), selbst ein Märchen zu schreiben und illustrierte es – obwohl ich vorher nie welche gemacht hatte – mit einfachen figürlichen Scherenschnitten.
Das sollte meinen weiteren Weg bestimmen. Auf Veranlassung der Schulleiterin erlaubten meine Eltern, dass ich die Aufnahmeprüfung für Werbe- und Gebrauchsgraphik in Magdeburg an der Meisterschule für das gestaltende Handwerk machen durfte. Ich bestand sie und hatte einen vorzüglichen Lehrer, einen Meister des Holzstichs. Das war letztendlich auch mein Ziel. Es gab jedoch weder das notwendige Werkzeug noch Hirnholz, nicht einmal Linoleum und Schneidfedern. Außerdem hatte ich nur wenig Kraft in den Händen, was beim Zeichnen vorteilhaft war Wir alle hatten aber Stick- und andere Scheren, dazu Bunt-, Glanz- und Scherenschnittpapier. Nur der Scherenschnitt wurde nirgendwo gelehrt. Wir, das sind die Studienkolleginnen ab dem 1. Semester, versuchten es alle, lernten voneinander, jede bemüht, Eigenes zu gestalten. Das Resultat: Pflanzen, niedliche Tiere und Kinder, vor allem Märchen. Alles wie schon immer gehabt, zumeist als Silhouette, sauber, nett, liebenswert, idyllisch. Meine Arbeiten aus dieser Zeit sind verloren. Das schmerzt heute noch und sei es nur, um sie mit dem zu vergleichen, was jetzt so grundverschieden von ihm entstanden ist.
Aber in unserer Gegend ging der Krieg zu Ende. Vorher wurden wir konfrontiert mit dem fürchterlichen Flüchtlingselend, Lazaretteinsatz am Ort (wo man gute Bekannte, jung und alt, mit Verbrennungen und Schussverletzungen wieder fand), und anschließend mit der russischen Besatzung. Da gab es für niemanden psychologische Betreuung oder trostspendende Barmherzigkeit. Wir haben die schlimmen Dinge verdrängt und meinten, das wär’s dann gewesen. 1948 erwirkte ich in der DDR (damals noch Sowjetzone) die Erlaubnis, mein Studium in Wuppertal an der Werkkunstschule beenden zu dürfen. ich bekam sie und wollte nach dem Staatsexamen zurück. Da war Deutschland geteilt. Es ging nicht. Im Wuppertaler Studium hatte ich in den ersten Semestern alles geschnitten, was schneller und sauberer zu machen war, als es zu zeichnen. Ausgerechnet mein Dozent für Freihandzeichnen sah das und machte mir den Scherenschnitt so leid, dass ich nur noch 3 Mode-Figurinen und einige Firmenlogos schnitt. Der Scherenschnitt wurde von den so genannten „Akademiekünstlern“ nie für voll genommen, allenfalls unter „Kunstgewerbe“ registriert oder als Kirmeskram abgetan. Ich gab auf, vorläufig.
Nach gemeinsam bestandenen Staatsexamen arbeiteten mein Mann Rolf (+ 1988) und ich freischaffend, hauptsächlich für Verlage. Keine Scherenschnitte, allenfalls für Schutzumschläge, nie als Illustration. Die Kunden zahlten schlecht und ich hatte keinerlei Rentenversicherung. Als ich mich im Schuldienst um eine Anstellung bewarb, wurde ich im Oktober 1970 eingestellt für die Fächer Kunst und Technik und auf eigenen Wunsch an einer Hauptschule. Lehrer müssen endlose Konferenzen über sich ergehen lassen. Als Freischaffende in der freien Wirtschaft war ich anderes gewohnt. Nachdem ich zwei Westen gestrickt hatte, begann ich Faltschnitte verschiedenster Art zu machen, um mit den Mathelehrern zu koordinieren. Da wollte im Unterricht ein Schüler einen schwarzen DIN- Heftumschlag loswerden.
Ich griff zu und es entstand 1972 der erste Scherenschnitt, in welchem der Mensch das Wichtigste ist. Ich hatte mich darauf besonnen, dass ich mein Staatsexamen „mit besonderer Belobigung für figürliches Zeichnen“ absolviert hatte. Mit diesem ersten Scherenschnitt nach jahrzehntelanger Pause brach der Bann. Die Zeit war nicht spurlos vorübergegangen. Viele Erfahrungen kamen zurück, neue, andere hinzu. Immer beschäftigten mich Menschen, ihre Leiden, die Ungerechtigkeiten, denen sie und ich ausgesetzt waren, bewusst oder unbewusst. Und dann erfasste mich eine regelrechte Wut darüber, dass Scherenschnitte nicht zur Kunst gehören sollten. Natürlich gibt es Unterschiede, genauso wie bei Bildern oder Gegenständen in Ausstellungen. Aber sie in Bausch und Bogen abzulehnen – das halte ich für überheblich und nicht richtig. Eines bedaure ich außerdem, dass die Bilder Titel haben müssen. Kein Betrachter sollte davon abgehalten werden, sich beispielsweise eigene Gedanken zu machen und etwas anderes darin zu sehen. Ich weiß, meine Scherenschnitte sind unbequem. Menschen sind es auch. Es ist nicht mehr zu erwarten, dass ich mich ändere.
Autor/in Irene Scharwächter-Mebes
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