Haidelis Jacob-Kalähne

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Autor(in) Rainer Beßling
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„Zum Wesenskern der Natur – Scherenschnitt-Arbeiten“ von Haidelis Jacob-Kalähne

Im Mittelpunkt von Haidelis Jacob-Kalähnes Denken und Kunst stehen Mensch und Natur. Als Botanikerin hat sie das facettenreiche Erscheinungsbild natürlicher Organismen erforscht und zeichnerisch fixiert. Gleichzeitig wurde sie mit dem sensiblen Verhältnis der Arten und der Gefährdung des ökologischen Gleichgewichts konfrontiert. Das im Biologiestudium erworbene Wissen und ein sorgfältig angelegtes Herbarium bleiben für sie neben der direkten Anschauung bis heute unerschöpflicher Fundus für Bildfindungen. Neben der Formenvielfalt ist es insbesondere aber auch die innere Ordnung der Natur, die Haidelis Jacob-Kalähne bewegt und zum Ausdruck treibt.

Dabei reflektiert sie in immer neuer Weise und mit zunehmender bildnerischer Konzentration die eigene Rolle und die Rolle des Menschen insgesamt im Kreislauf und Gleichgewicht der organischen Welt. Als Künstlerin hat sie für Erscheinungsbild und Wesen der Natur eine Ausdrucksform gefunden, die sich dem organischen Wachstum der Lebewesen bereits im künstlerischen Produktionsprozess nähert: allmähliches Reifen aus einem ideellen und materiellen Kern. Sie nutzt den „Baumeister Natur“ als Kompositionslehrer. Vor allem aber dringt sie in ihren besten Arbeiten zum inneren Wesenskern der Natur vor und überführt deren Gesetze und Gefährdungen in eine Stofflichkeit und Körperlichkeit, die das viel beschworene Geheimnis der Natur abseits gedanklicher Abstraktionen sinnlich erfahrbar machen. Aus ihren Pflanzendarstellungen lässt sie Bildräume wachsen, die mehrere Inhaltsebenen miteinander verschränken.
Da ist zuerst das natürliche Produkt, das die Künstlerin in seiner morphologischen Eigenart und Einzigartigkeit zu erfassen sucht. Da ist des Weiteren der atmosphärische Gehalt, den die Naturerscheinung – und oft nur sie – zu erwecken vermag. Da ist außerdem die spürbare Begeisterung, welche die Künstlerin beim Betrachten und Erkennen der natürlichen Schönheit, Ebenmäßigkeit und Harmonie empfindet. Und da sind schließlich die vielfältigen äußeren und inneren Beziehungen zwischen Mensch und Pflanze, die vielen Kompositionen das inhaltliche Fundament verleihen.

Das geschulte und wissende Auge der Biologin schält für uns Eigenschaften aus den Phänomenen der Natur, die dem Menschen des Maschinenzeitalters zunehmend fremder geworden sind. So ist die Kunst von Haidelis Jacob-Kalähne neben ihrer ästhetischen Qualität auch eine Schule des Sehens für die äußeren Merkwürdigkeiten und inneren Wesensmerkmale der natürlichen Erscheinungen. Die Künstlerin baut Brücken zwischen der menschlichen und pflanzlichen Welt, die sich zunehmend auseinander zu entwickeln drohen – ein Prozess, der im Bewusstsein das zementiert, was sich in der Realität bereits auf die ökologische Katastrophe zu bewegt.

Wer sich lange genug auf die Bilder einlässt, kann ihre Geheimnisse vielleicht selbst entschlüsseln. Botanische Kenntnisse und Denkweise wären dabei freilich nicht von Nachteil. Im Blatt „Loslösung“ etwa ist es die besondere Stellung des Samens im Samenstand des Wiesenbocksbarts, die das Interesse der Künstlerin weckt. Die langen Strecken, welche die fallschirmähnlichen Gebilde zurücklegen, erinnert die zweifache Mutter an die Wege, die auch Kinder von ihren Eltern trennen können. Die „Mohrenblüte“ wiederum fasziniert Haidelis Jacob-Kalähne durch die isolierte Mittelpunktstellung einer einzigen schwarzen Blüte, umgeben von einem Heer von weißen Einzelblüten. In ihrer Arbeit „Die Frucht“ verschränkt die Künstlerin in den Bildinhalten direkt verschiedene Lebenswelten: Frucht und Embryo wecken gleichzeitig die spannende und bange Frage: Was wird? Eine Verschränkung auf anderer Ebene, doch mit mindestens gleicher Ausdruckskraft gelingt ihr in dem Blatt „Lebensspuren“. „Fossil und Fingerabdruck“ nebeneinander rücken unterschiedliche Dimensionen zusammen und lassen zugleich ihre riesige Distanz spüren. Das eine hat Millionen Jahre überlebt, was aus uns und unserem „Identitätsnachweis“ wird, steht in den Sternen.

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                            Loslösung                                                  Mohrenblüte

Im Hintergrund erinnert ein abgebrannter Urwald daran, wie über unvorstellbare Zeiträume gewachsene Welt in Tagen und Stunden verschwindet. Häufig ist es auch das Verfahren der Vergrößerung, mit dem uns die Künstlerin auf die kleinen Geheimnisse und Schönheiten der Pflanzen stößt. Welchen Aufwand treibt die Natur bei vielen Blättern und Blüten, denen sie die gestaltungsreichsten Muster einprägt? Die staunende Frage der Künstlerin ist aus vielen dieser Arbeiten zu spüren. In einem aber ist zugleich die Furcht zum Ausdruck gebracht, der Mensch könnte die Artenvielfalt und ihren Formenreichtum vollends zerstören: der Bogen der Evolution wird immer schmaler.

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                          Die Frucht                                             Wie Halme im Wind

Doch auch ohne den botanischen Schlüssel bleibt ein reiches offeneres Assoziationsangebot: Blütenformen erinnern an menschliche Silhouetten in charakterisierenden Haltungen und extremen Stimmungslagen. Das Formenspiel der Pflanzen illustriert Spielarten des menschlichen Miteinanders oder Gegeneinanders. Umgekehrt sind Porträts eingewoben in Gras-, Baum- oder Blütenlandschaften, die das Innenleben der Dargestellten nach außen zu kehren scheinen. Romantische Allegorien, reiche Anspielungen in Gefühls- und Sinnesdimensionen, eine offene Symbolik, die den Mythos Natur im Umfeld technischer Rationalität und kühler Ästhetik mutig beschwört, ohne geschmäcklerische Anleihen an archaische Kulte, ohne die Flucht in private Mythen. So sehr sich Haidelis Jacob-Kalähne der Nöte der Natur gerade in unserer Zeit auch bewusst ist, Provokation oder Aufschrei sind nicht ihre Sache.

Die Stimmung, die in ihren Arbeiten herrscht, ist eher die der Harmonie. Und wenn auch die Störung des natürlichen Gleichgewichts in ihren Arbeiten thematisiert wird, bleiben doch Sehnsucht und Suche nach der verloren gegangenen Ordnung der atmosphärische Fluchtpunkt ihrer Scherenschnitte. In der Mehrzahl ihrer Schnitte stellt die Künstlerin die sichtbaren Phänomene aus Pflanzen- und Tierwelt ins Bildzentrum. Der natürliche Bau ist ihr dabei Ausgangspunkt und Folie, Oberfläche und Umrisse sind für den Betrachter meist rasch entzifferbar. Blätter oder Blüten, Larven oder Schmetterlinge platziert Haidelis Jacob-Kalähne als kompositorische Highlights der Evolution auf eine vielfach gebrochene, insgesamt aber wohl ausgewogene Fläche.

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                                                    Lebensspuren

Der Reiz der Arbeit liegt hier nur vordergründig in der Nachgestaltung der Gegenstandswelt. Die Arbeiten besitzen abseits ihres gegenständlichen Bezuges eine formspezifische Aussagekraft und Suggestivität: Die Künstlerin leuchtet die Spannbreite ihrer konzentrierten, auf Schwarz-Weiß-Kontraste reduzierten Kunst, aus, buchstabiert die Möglichkeiten der Spannung zwischen Linie und Fläche durch und erweitert die grafischen Mittel häufig in fast skulpturale Momente hinein. Meditationsräume voller geheimnisvoller Innenwelten sind das Ergebnis, über den Verdacht puren Naturalismus weit erhaben. In faszinierender Weise prägt die Künstlerin ihren Schnitten Räumlichkeit und eine vielschichtige Auffächerung der Grundkontraste ein. In originärer Weise scheint sie die materialen Qualitäten von Holzschnitt und Zeichnung in ihrer Kunst auf einer neuen Stufe miteinander zu verbinden.

Dabei stellt sich in Haidelis Jacob-Kalähnes Schnitten die auch dem Holzschnitt ureigene archaische und meditative Kraft ein. Der Bildinhalt kommt zu sich selbst.

Reduziert auf einfachste gestalterische Grundelemente evoziert das Werk auch beim Betrachter Sammlung, Voraussetzung dafür, sich über die Oberfläche allmählich den Innenwelten des Bildes zu nähern – so wie sich die Künstlerin selber allmählich im Nachschaffen und zugleich im autonomen künstlerischen Prozess ihrem Werk genähert hat. Häufig hat Haidelis Jacob-Kalähne in ihren frühen Arbeiten Menschenkörper oder -köpfe mit ins Bild gestellt, Porträts in Nachbarschaft oder Verbindung zu Pflanzen gesetzt. Das feine Gewebe von Blättern stützt hier ornamental Gesten, Gebärden oder Posen, in anderen Fällen bebildert ein naturnahes Geränk innere Befindlichkeiten oder Atmosphären.

Bisweilen ist auch das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Natur schon Thema. Ein weiteres wichtiges Thema sind auch Architekturabbildungen; hier gelingen ihr Räume, die ihrer realistischen Konturen merkwürdig entrückt erscheinen. Was hier mittels einer konkreten und gegenständlichen Bildsprache noch eher auf rasche, dafür aber eindimensionale „Entzifferungen“ zielt, hat Haidelis Jacob-Kalähne folgerichtig zu vermehrter Abstraktion und offenerer Bildsprache weiterentwickelt. Folgerichtig, weil der Verstoß von der Erscheinung zum Wesen schon in ihrem wissenschaftlichen Denken angelegt war, folgerichtig, weil sie die Darstellungs- und Ausdruckspotenz ihrer Scherenschnitte erst im künstlerischen Prozess selbst entdecken musste, um die gegenständliche Orientierung lediglich noch als Basis für die Bildkomposition nehmen zu können. In ihren jüngeren Arbeiten beherrscht nun vollends nicht mehr eine grafisch aufbereitete Gegenständlichkeit das Bild.

Vielmehr ist die Künstlerin über das Studium der Morphologie natürlicher Organismen zu einer kompositorischen Freiheit gelangt, die ihren Ausgang nimmt in der autonomen künstlerischen Aussageabsicht und die formalen Mittel aus ihrer Zuträgerrolle für das „Abbild“ befreit. In den eher abstrahierenden Arbeiten erschließen sich die Erlebnis- und Erkenntnisqualitäten nicht auf den schnellen Blick oder durch das Wieder erkennen. Der Weg zur „Entschlüsselung“ der Bildelemente ist steiniger, ein Ankommen wird nicht unbedingt garantiert. Dafür kann der Betrachter eine unendliche Zahl von Bildern selbst „nachschaffen“. Die geschnittenen Linien und Flächen tragen auch ohne letzte gegenständliche Ausformulierung den Charakter von Körperlichkeit.

Zeichnerische Grundformen symbolisieren archetypisch die Elemente sensibler Organismen, ihr Verhältnis zueinander wird durch Inszenierungen und Verflechtungen gestaltet; die Stellung der Künstlerin – in kritischer Sorge und nachdenklicher Beobachtung – offenbart sich in der Gesamtkomposition. Wie Haidelis Jacob-Kalähne uns den Blick schärft und die Gedanken ebnet, um von der Naturerscheinung zum Wesenskern von Mensch und Natur fortzuschreiten, das ist faszinierend. Wie sie das Medium „Scherenschnitt“ zu einer veritablen und eigenständigen Kunst neben den gängigen Genres entwickelt hat, das erstaunt. Welch suggestive, dynamische Kraft und zugleich konzentrierte Sammlung ihren Arbeiten innewohnt, davon sollten sich die zahlreichen Betrachter, die ihre Kunst verdient, selbst überzeugen.

Dieser Aufsatz ist entnommen worden aus dem Buch
„Haidelis Jacob-Kalähne – Scherenschnitt-Arbeiten“, 1992

 

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