Der Scherenschnitt ist ein internationales Phänomen mit einer Geschichte mindestens so alt wie die Anfänge des Papiers 105 n. Chr. in China. Der chinesische Buntpapierschnitt verfügt zwar über eine lange Tradition, doch fehlen für eine Ahnenschaft des europäischen Scherenschnitts genügend alte Zeugnisse und schriftliche Quellen. Der Islamwissenschaftler und Orientalist Georg Jacob (1862–1937), einer der ersten Forscher über den Scherenschnitt im frühen 20. Jahrhundert, sieht den Ursprung des westeuropäischen Scherenschnitts in Persien, der dort als Buchschmuck Verwendung fand.
Der Sammler und Kunsthistoriker Martin Knapp hingegen äußerte: »Unsere abendländische Ausschneidekunst steht wohl in keinem Abstammungsverhältnis zu der des Orients. Das Ausschneiden in Papier ist überhaupt eine Übung, die wenig Schüler und Meister kennt, die überall wieder selbständig auftaucht und daher an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten als eine neue ,Erfindung‘ bezeichnet worden ist.« Mag die Einschätzung Knapps auch berechtigt sein, legen die Forschungen der Volkskundler Adolf Spamer (1883–1953) und die von Sigrid Metken (geb. 1928) nahe, dass die Wurzeln des europäischen Scherenschnitts in Buch, Schrift und Ornament liegen.
In Europa beginnt die Entwicklung des Scherenschnitts im 17. Jahrhundert mit dem so genannten Weißschnitt aus Papier oder Pergament. Konstituierend für den Weißschnitt ist die konturierte Miniatur sowie das die Fläche auflösende Ornament. Das Themenrepertoire reicht von Herrscherporträts, See- und Landschaftsdarstellungen, über Stillleben bis hin zu Jagdszenen und Architekturstücken. Häufig wurden die Schnittbilder in Sammelalben oder Stammbüchern (alba amicorum) aufbewahrt. In süddeutschen, österreichischen und Deutschschweizer Klöstern gingen Nonnen dazu über, die Umrahmung gemalter Andachtsbilder mittels eines Messers in ein Zier- und Rankenwerk aufzulösen. Diese Spitzenbilder entwickelten sich parallel zur Textilindustrie und wurden häufig ins Gebetbuch gelegt. Zentrum der Schnittkunst waren zunächst die Niederlande. Schnittbilder, die durch Binnenschnitte und Messerstrichelungen plastische Wirkungen erzielten, wurden besonders im 17. Jahrhundert von Frauen geschnitten, wie Johanna Koerten-Blok (1650–1715) oder Elisabeth Rijberg (um 1670–1721).
Sozialhistorisch lässt sich dieses Phänomen mit dem Terminus der ,weiblichen Künste‘ bzw. des ,künstlerischen Dilettantismus umschreiben, der sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herauskristallisierte. Hierunter subsumiert man speziell textile Künste, wie Stickerei und Näherei, denen die Frauen sowohl erwerbsmäßig als auch in Mußestunden nachgehen konnten. Der Begriff der Mußestunde, des Zeitvertreibs, setzte im absolutistischen Zeitalter einen gehobenen Stand voraus, der materiell unabhängig war.
Der in der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende Schwarzschnitt wird allgemein mit dem Scherenschnitt assoziiert, wobei der Weißschnitt parallel weiter existierte. Von England über Frankreich und nach Deutschland vermittelt, avancierte die Porträtsilhouette zu einem frühen Massenmedium. Sie wurde zu einem Kulturdokument der deutschen Klassik.
Die Bezeichnung ›Silhouette‹ leitet sich vom französischen Generalkontrolleur der Finanzen Ludwigs XV. (1710–1774), Étienne de Silhouette (1709–1767), ab. Silhouette, der sich in London mit Finanz- und Wirtschaftswissenschaften beschäftigt hatte und hier vielleicht mit Schattenbildnissen in Berührung kam, verfolgte einen rigiden Sparkurs.
Frankreich befand sich seit 1756 im Siebenjährigen Krieg gegen Preußen und verlor seine Kolonien in Asien und Nordamerika. Kriegskosten und das verschwenderische Leben am Hofe sorgten für leere Staatskassen. Silhouettes Sparkurs griff auch auf die Mode und die bildende Kunst über. So sollte z. B. der Überrock eingespart werden und anstelle von teuren Miniaturporträts die kostengünstige, schnell und einfach für jeden herzustellende Silhouette Anwendung finden. Mit seiner Politik, die nur von März bis November 1759 währte, kläglich gescheitert, erlangte sein Name jedoch Unsterblichkeit. Für das Pariser Volk war der Name Silhouette synonym für alles, was irgendwie sparsam und armselig aussah. Der Spottausdruck »à la silhouette« hielt sich hartnäckig. Die Bezeichnung ›Silhouette‹ für das aus Papier geschnittene Profil setzte sich über Frankreichs Grenzen hinaus durch. 1835 wurde der Begriff von der Académie Française offiziell anerkannt und bezeichnete alles Ausgeschnittene.
Zahlreiche Diskurse trugen zur Verbreitung und Beliebtheit der Silhouette bei, die hier nur kurz aufgezählt werden können: Im Klassizismus erfuhr die bildliche Darstellung des Kunstmythos aus der »Naturalis historia« (Naturkunde, 77 n. Chr.) des römischen Universalgelehrten Gaius Plinius Secundus des Älteren (23–79 n. Chr.) rege Verbreitung, wonach die Töpferstochter Dibutadis den Schatten ihres scheidenden Geliebten nachzeichnete.
Der Vorrang der Linie (Umrisslinienstil) wurde in der klassizistischen Malerei gepriesen. Die Antikenbegeisterung wuchs durch Ausgrabungen in Herculaneum (seit 1738) und Pompeji (seit 1748), und sie legitimierten zusammen mit den Schriften Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) die Profilbildnisse historisch und ästhetisch. Die Physiognomik avancierte zum Gesellschaftsspiel höherer Kreise.
Die Silhouette oder der deutsche Terminus Schattenriss war in ihren Anfängen das fixierte Schattenbild eines Profils. Es gab zahlreiche Anleitungsbücher und Apparaturen, wie den von dem Juristen Ludwig Julius Friedrich Höpfner (1743–1797) erfundenen Silhouettierstuhl, um die Kontur des Abzuschattenden abzunehmen, sie evt. mit dem Storchschnabel zu verkleinern, schwarz auszutuschen und auszuschneiden. Die Silhouette besaß vor allem eine mnemotechnische Funktion wie später das Foto. Sie wurde gesammelt und getauscht. Für den Züricher Theologen Johann Caspar Lavater (1741–1801) wurde der Schattenriss zum visuellen Beweismaterial für die Physiognomik, die er in seinem Hauptwerk »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe« (1775–1778) heranzog. Seit der Antike gilt die Physiognomik als (Kunst-)Lehre bei Lebewesen, vor allem beim Menschen, anhand äußerer Zeichen und Merkmale auf seine psychischen Eigenschaften zu schließen. Lavater war in seinen physiognomischen Studien auf der Suche nach dem wahren, schönen Menschen, dem Ebenbild Gottes. Es verwundert nicht, dass man ihn mit Schattenrissen überschüttete, von denen die charakteristischsten dann in seinem Werk aufgenommen wurden.
Silhouetten und Figurendarstellungen schnitt man auch ohne mechanische Hilfe frei ins Papier. In der deutschen Romantik entwickelte sich der Scherenschnitt vom Porträt zum Genre. Zur Meisterschaft brachte es Luise Duttenhofer (1776–1829). Ihre perspektivisch geschnittenen Fußböden suggerieren eine verblüffende Räumlichkeit, die in Märchenillustrationen von Emma Eggel (1843–1890) und von Luise von Breitschwert (1833–1917) nachgeahmt wurden. Philipp Otto Runge (1777–1810) schnitt seine heute berühmten Blumenschnitte im Weißschnitt, wie auch der junge Adolf Menzel (1815–1905) weiße Schnittbilder fertigte. Auch der Märchendichter Hans Christian Andersen (1805–1875) schnitt fantasievolle Weißschnitte.
Im Biedermeier verzierte man Möbel, Geschirr und Schmuck mit dem Schattenbild, und es dominierte der Illustrationsschnitt. Von Paul Konewka (1840–1871) etwa sind zahlreiche Schnittbilder zu Faust, Falstaff und dem Sommernachtstraum überliefert. Karl Fröhlich (1821–1889) und Wilhelm Müller (1804–1865) ragen aus der Masse an Scherenschneidern heraus. Partiell mit Binnenschnitten und Perspektive arbeitend, erreichten sie hohe Kunstfertigkeit. Die Porträtsilhouette wurde mehr und mehr zurückgedrängt und verlor mit der Erfindung der Fotografie 1839 an Bedeutung.
Um die Jahrhundertwende erfuhr der Scherenschnitt eine Neubelebung, die bis 1920 andauerte. Wesentlichen Anteil hieran hatte der Dresdner Dichter Ferdinand Avenarius (1856–1923). In seiner von ihm gegründeten und herausgegebenen Zeitschrift »Der Kunstwart« (1887–1932), die ähnlich wie die »Jugend« zum Kristallisationspunkt der Reformbewegungen wurde, stellte man vergessene Klassiker des Scherenschnitts in einer eigenen Reihe neu vor und wirkte damit anregend auf junge Künstler und Dilettanten.
Es erschienen zahlreiche Kalender und Postkarten mit Scherenschnittmotiven aller Gattungen, und es fanden große Ausstellungen, wie z. B. 1914 die »Jahrhundert-Ausstellung Deutscher Kunst 1650–1800« in Darmstadt und die »Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Grafik« in Leipzig statt. Als namhafte Vertreter sind u. a. zu nennen Johanna Beckmann (1868–1941) mit ihren zarten Märchenschnitten, Rolf von Hoerschelmann (1885–1947), Mitarbeiter der Schwabinger Schattenspiele, Ernst Penzoldt (1892–1955), Ernst Moritz Engert (1892–1986), Georg Plischke (1883–1973) und Fritz Griebel (1899–1976).
© 2013 Antje Buchwald
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Dieser Text entstand anlässlich der Ausstellung „Randscharf – Scherenschnitt heute“ im Deutschen Klingenmusuem, Solingen, im Oktober/November 2013. Dort waren erstmalig Werke von Vertretern des Deutschen Scherenschnittvereins e.V. gemeinsam mit Arbeiten deutscher Gegenwartskünstler zu sehen.
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- Der Katalog zur Ausstellung kann zum Sonderpreis von € 14,90 (zzgl. Versand) beim Deutschen Scherenschnittverein e.V. bestellt werden.
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