Mit einer Aktionswand möchte das Erste Deutsche Scherenschnittmuseum in Vreden einzelnen Künstlern einen breiteren Raum zur Präsentation gewähren. Die erste Künstlerin, die auf diese Weise vorgestellt wird, ist die Scherenschnittkünstlerin Hilke Duis, die 2009 im Alter von 71 Jahren im Osnabrücker Land verstarb.
15 Blätter schuf sie 1991 als „Münsterscher Pulcinella Leporello“ für die Speisegaststätte „Pulcinella“ in Münster. Hilke Duis war seit Anfang der 60er Jahre mit der Konzeption und Gestaltung der Münsteraner Traditionslokale „Cavete“ und „Blaues Haus“ eng verbunden gewesen, zu denen später die „Pulcinella“ hinzukam. Für dieses Lokal wurde der hier ausgestellte qualitativ hochrangige Zyklus geschaffen, aber leider nie präsentiert. Er verschwand jahrelang in der Schublade, bis er jetzt erstmals in Vreden seine glanzvolle Auferstehung feiern kann.
Schon das von ihr verwendete Kunstwort „Pulnicella“ deutet an, worum es der Künstlerin geht. Stellt man die Konsonanten richtig, findet man zu dem bekannten Wort „Pulcinella“, einer Figur, die mit der charakteristischen Vogelmaske in der italienischen Commedia dell ?Arte eine wichtige Rolle spielt. Der erste Scherenschnitt, als Weißschnitt zusammen mit farbigem Papier auf dunklem Grund montiert, zeigt bereits diese typischen Figuren. Zwei Pulcinellen umtänzeln die Weltkugel, während hinter ihnen aus einer großen braungetönten Woge Vögel und der Mond als Halbsichel emporsteigen.
Hilke Duis unterlegt die Bilder mit Texten, die sie aus der Literatur in Prosa und in Lyrik zusammenstellt. Sie sind nicht unbedingt die erklärende Wortwelt zu ihrer Kunstwelt. Sie sind eher Stimmungsbilder für die künstlerischen Kapriolen, die sie in den Scherenschnitten auferstehen lässt. Der Untertitel gibt schon die einleuchtende Erklärung: „Farce mit Konfetti gesammelt; geschnitten; gekocht und serviert für Pulcinella in der Kreuzstrasse“. Für die Künstlerin ist es eine besondere Ehre, in „Münster, der wichtigsten Stadt der Welt, wieder einmal aufzuerstehen“.
In Münster verlebte Hilke Duis prägende und wichtige Jahre, an die sich viele Erinnerungen und viele Aktivitäten knüpfen. 1935 wurde sie in Königsberg/Ostpreußen in eine humanistisch geprägte Familie hineingeboren. Über Dresden und Schleswig-Holstein strandete sie nach Kriegsende in Hamburg. Ihre Jugend verlebte sie mit den Eltern und zwei Schwestern im Hamburger Stadtteil Eppendorf. Literatur, Kunst, Musik waren ihr schon seit Kindertagen vertraut, ebenso die Antike, das Christentum und der Orient in Mythen und Legenden. Ihr künstlerisches Talent wurde schon früh erkannt und durch den Besuch einer privaten Kunstschule in Hamburg gefördert. In Münster war sie Studentin an der Werkkunstschule. Das Studium der Grafik und der Bildhauerei bei den Professoren Winde und Kükelhaus prägten sie. Nach dem Ende der Ausbildung lebte sie einige Jahre in Hohenholte bei Münster.
Seit den 50er Jahren beschäftigte sie sich mit Theater, Politik, Philosophie und besonders mit der Literatur. In den 60er Jahren half sie maßgeblich bei der Gründung und dem Aufbau der ersten Studentenkneipen in Münster. Lokale wie „Cavete“. „Blaues Haus“ und „Mimi ?s Bierhaus“ prägten die Geschichte der Gastronomie in Münster entscheidend und trugen immer ihre Handschrift. Hilke Duis führte mit ihrem Mann darüber hinaus in Münster auch die Galerie „Schwarzes Schaf“.
Anfang der 70er Jahre zog sie sich als freischaffende Künstlerin ins Osnabrücker Land zurück. Noch intensiver als bisher widmete sie sich der Kunst und der Beschäftigung mit der Literatur. Das Engagement für den Natur- und Landschaftsschutz beschäftigte sie zusätzlich. Im Bundesverband Landschaftsschutz e.V. engagierte sie sich gegen die Verschandelung der Landschaften durch Windkraftanlagen.
In der Ruhe des neuen Lebensraumes vertiefte sie ihre praktische und wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Papierschnitt, den sie bis an ihr Lebensende perfektionierte und zu einer ganz eigenen Ausdrucksform erblühen ließ.
Eine Auswahl ihrer Arbeitsgeräte, die neben dem originalen Scherenschnittzyklus ausgestellt ist, zeugt von Subtilität und kleinteiliger Feinarbeit. Scheren in verschiedenen Schnittgrößen, Stifte, Kleber, Lineal, oder auch ein Dreieck für spezielle Positionierungen der geschnittenen Details in der Gesamtkomposition sowie Papier in verschiedenen Färbungen belegen die Intimität des Arbeitsprozesses. Manchmal schöpfte Hilke Duis auch selbst Papiere nach ihren eigenen Vorstellungen, z. B. Marmorpapiere, auf denen Sie neben dem bevorzugten Lackpapier ihre Scherenschnitte montierte.
Absolut präzise sind die Linien, die sie mit den verschiedenen Scheren schnitt. Sowohl die Innen- als auch die Außenlinien bestechen durch Prägnanz und intuitiv sichere Führung des Schneidwerkzeugs. Hilke Duis war eine der wenigen Papierschneiderinnen, die freihändig, ohne auf der Rückseite vorzuzeichnen, schneiden. Aus diesem Grunde „stimmen“ in ihren Arbeiten alle Schwünge und Linien.
Die „Münsterschen Pulcinellen“ teilte Hilke Duis in drei Gruppen: Die Innamorati oder Verliebten, die Vecchi oder Alten und die Zannini oder Diener. Der literarische Leporello, den die Künstlerin aus ihrer vielfältigen Literaturkenntnis zusammentrug, ist keine Erklärung zu den Bildern. Anders ausgedrückt, die Scherenschnitte sind keine Illustrationen zu den Texten, deren Autoren erst zum Schluss summarisch aufgeführt sind. Dennoch bilden sie eine Einheit, die sich durch dieselbe Stimmung ergänzt. Aus der „Commedia dell ?Arte“ wurde in den Texten die „Commedia dell ?Arte“ als Protest gegen das übliche Schema der Komödie, in der über moralische Fehler gelacht werden dürfe, so heißt es in dem anschließenden Text. Eine Erklärung, was „Pulnicellas“ seien, liefert sie ebenfalls in den Texten: „Die Pulnicellas müsst ihr wissen, hat unser Herrgott zu Beginn der Zeichenkunst erschaffen“ Ihr braucht die Pulnicellas nur mit anderen Leuten zu vergleichen“. Die Gaumenfreuden des Lokals, für das sie den Zyklus schuf, werden verwoben mit den Gedanken über das Theater und die Menschen. Genau dieses verbindet die Texte und die kunstvollen Scherenschnitte von Hilke Duis.
Es wird getanzt, es wird die Maske gelüftet. Aus dem großen „Bocca de veritá“ auf dem vierten Blatt entschweben Schmetterlinge, die Hilke Duis gern verschenkte als antike und christliche Symbole der Seele. Der berühmteste „Bocca de Veritá“, übersetzt „Mund der Wahrheit“, befindet sich in der römischen Kirche Santa Maria in Cosmedin. Einer mittelalterlichen Legende folgend, wird jedem Lügner die Hand abgebissen, wenn er sie dort hineinlegt. Die Künstlerin macht daraus eine Theaterkulisse mit wehenden Tüchern und tanzenden „Pulnicellen“.
Ein fröhliches Völkchen macht sich auf ihren Blättern breit, das sie fast immer wie auf einer Theaterbühne agieren lässt. Nach dem tänzelnden Vorspiel agieren die Figuren ab dem achten Scherenschnitt mit dem, was ein Speiselokal ausmacht. Spaghetti statt Masken oder Flöten halten die „Pulnicellen“ in den Händen, komödiantisch entlarven sie damit Essgenuss und manchmal auch Esssucht. Denn spätestens im zwölften Blatt biegen sich die dicken Bäuche einander zu und dennoch wird weiter der Völlerei gefrönt, eine humorvolle und künstlerisch eindrucksvolle Szenerie.
„Es wurde das höchste Prinzip der Kunst verwirklicht: die Vielfalt in der Einheit, das Lebendige, Überraschende, Unberechenbare in strenger, gestalteter, künstlerischer Form“, so lautet eine Textstelle in dem literarischen Leporello. Das Zitat des leider ungenannten Meisters könnte genauso gut das Urteil eines Kunstkritikers sein. Hilke Duis erschuf mit ihrem breit gestreuten Wissen aus Literatur, Kunst und humanistischer Bildung und ihrem künstlerischen Können eine eigene Kunstgattung, die sie humorvoll und hochwertig gearbeitet zu einer Einheit formt.
Autor/in Elvira Meisel-Kemper
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