„Warum ich schneide: weil ich es MUSS!“ Gerhild Wächter
Gerhild Wächter ist Fotografin und Sozialtherapeutin. Seit ca. 1987 fertigt sie Scherenschnitte an. Es war der Zufall, der sie zu Schere und Papier greifen ließ. Die bunten Prospekte, die ihren Briefkasten überschwemmten, weckten ihr Interesse. Sie griff zur Nagelschere, und es entstanden aus den vorgefundenen Materialien die ersten Schnittbilder, die sie sämtlich direkt aus dem Papier schneidet ohne Vorzeichnung.
Mittlerweile umfasst Gerhild Wächters Oeuvre Karten für diverse Anlässe, wie Geburtstag, Konfirmation, Oster- und Weihnachtskarten sowie Kondolenzkarten. Seit 1996 entstehen Bildgeschichten und seit 1998 setzt sie sich mit dem Thema Baum auseinander; im selben Jahr illustrieren ihre Schnitte ihren Gedichtband Anfang, ediert von Gernot Nussbächer.
Wächters Bildgeschichten thematisieren zwischenmenschliche Beziehungen. Für Kinder schnitt sie die Geschichte von Pingi, Pangi und der Leuchtturm. Die Künstlerin erzählt hier vom Alltag des kleinen Pinguin-Mädchens Pingi und des großen Pinguin-Jungen Pangi, die zusammen die Welt entdecken. Der Leuchtturm ist für sie ein schützender Pol, der ihnen wie Gottes Licht die Welt erhellt. Weitere Tiergeschichten sind die Löwenbilder und Gazellengeschichten.
Sind die Tiergeschichten von Gerhild Wächter selbst erfunden, basiert die Weihnachtsgeschichte natürlich auf Erzählungen aus der Bibel. In der Weihnachtsgeschichte wird Wächters Linienführung zunehmend reduzierter. Sie arbeitet Figuren und Architektur aus dem schwarzen Papier mit Negativlinien heraus. Hierdurch wirken die darzustellende Figuren und Objekte blockhaft und erinnern an expressionistische Holzschnitte. Im Mittelpunkt steht die Erzählung, welche die Künstlerin prägnant umsetzt.
In der umfangreichen Serie Bäume schneidet die Künstlerin im Schwarz- und Weißschnitt Bäume in sehr vielen Variationen. Auf dunkelgrünem Grund appliziert erhalten besonders die Weißschnitte etwas Leichtes und Flirrendes. Die Schwere eines Baumes, der fest verwurzelt in der Erde steht, wird aufgebrochen.
Gerhild Wächter ist sehr naturverbunden. Bereits als Kind hatte sie Herbarien angelegt und Steine gesammelt. Die Formen der Natur scheinen sich ihr einverleibt zu haben. Gleichsam wie der frühromantische Maler und Scherenschneider Philipp Otto Runge (1777–1810) erfährt sie botanisierend die Welt. War für Runge die Blume Symbol des paradiesischen Allzusammenhangs, spürt Wächter in ihren Baumschnitten ebenso die jahreszeitenbedingten Veränderungen nach.
Die Künstlerin schafft keine naturalistischen Abbilder von Bäumen und Pflanzen. Vielmehr versucht sie das innere Wesen von Bäumen und Pflanzen zu porträtieren. In vielen ihrer Schnittbilder sind dem Baum oder der Pflanze menschliche Physiognomien einbeschrieben, die auch auf das Verhältnis von Mensch und Natur hindeuten.
Gerhild Wächters Schnittwerk zeichnet sich durch eine klare, zum Teil abstrahierende Bildsprache aus. Sie reduziert sich auf Bildzeichen, die bereits in Wächters frühem fotografischen Werk angelegt ist. So entwickelte sie in der Serie Alphabet eigene Buchstaben, um das Alphabet grafisch darzustellen. Kunst ist für Gerhild Wächter „Überlebenssprache“.
Antje Buchwald
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