Ronny Willersinn
Autor(in) Cl.Gross-Roath
SAW 26
Künstlerin der Interpretation von Literatur und Mystik
In einem hoch-rechteckigen Rahmen sind vertikal gestaffelt vier Reiter zu Pferde zu sehen. Am unteren Rand züngeln die Flammen empor. Etwas nach links aus der Mitte gerückt hält ein bekröntes Schlangenwesen Pfeil und Bogen, dessen Spitze nicht nur aus der Umrandung, sondern sogar über das Passepartout hinausragt. Des ersten Reiters Ross ist nur andeutungsweise zu sehen; an seine linke Schulter schließt sich die Silhouette des Pferdekopfes an. Zu Häuptern des untersten Reitersmannes springt ein Pferd voller Elan und sehr grazil von links nach rechts, während sein Reiter, ein Hummer, sich mit gekrümmten Rücken zurückwendet. Seine in Zangen endenden Arme hat er beide in die Lüfte geschleudert. Die Linke hält ein überdimensional großes Schwert.
In der Offenbarung des Johannes Kapitel 6, 2 und 4 heißt es, nachdem das erste Siegel aufgebrochen wurde: Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hatte einen Bogen, und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft und siegte… Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war feuerrot. Und dem, der darauf saß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und dass sie sich untereinander erwürgten, und ihm ward ein großes Schwert gegeben… Daraus ist erkennbar, dass die Lesrichtung des Bildes von unten nach oben verläuft. Das Aufbrechen des dritten Siegels bringt ein galoppierendes Pferd hervor, auf dem sich ein Wesen mit Wolfskopf wie ein Jockey aus dem Sattel hebt. Die beiden enteilen nach links aus dem Bild. Die Waage, die der Wolfsköpfige in seiner linken Hand hält, schwingt heftig durch die Geschwindigkeit des Galopps. In dem Kapitel 6, 5 und 8 heißt es dazu: Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in seiner Hand… Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, der Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Der vierte Reiter, ein Gerippe, sitzt auf einem sich aufbäumenden Pferd, das den Schweif temperamentvoll nach oben schlägt. Anstatt einer Hippe senkt der Tod einen Dreizack nach unten. Am oberen Bildrand wird das Geschehen von einem Feuerkranz begrenzt, was als eindeutiger Hinweis darauf gelesen werden kann, dass die Welt in Flammen steht. Und richtig, heißt es in der Bibel doch, dass dem Tod die Hölle nachfolgt.
Ronny Willersinn misst diesem vierten Reiter viel Bedeutung bei. Seine Darstellung nimmt fast die gesamte obere Bildhälfte ein, während sich auf der unteren die drei ersten Reiter tummeln. Dennoch kommt das Bild fast gänzlich ohne Überschneidung aus. An zwei zentralen Stellen jedoch werden die Überschneidungen der ungebrochen schwarzen Formen mittels Binnenschnitte zu Formgebendem Weiß. Dieser Wechsel der Figur-Grund-Beziehung kehrt in vielen anderen Werken wieder. Hier aber ist jetzt das jüngste Gericht angebrochen, die apokalyptischen Reiter fegen in einem Übereinander über die Erde hinweg. Die Lebhaftigkeit der Szene wird durch die vielen Schrägen aus Dreizack, Pfeil, Armen und Pferdeschweifen und dem Hin und Her der auseinander-sprengenden Pferde unterstrichen.
Das beschriebene Bild gehört ebenso wie Die sieben Zornschalen zum Apokalypse-Zyklus, den Ronny Willersinn 1995 zum ersten Mal ausstellte. An dem Buch des Neuen Testamentes hat ihr die bildhafte Sprache gefallen und zu ihren Bearbeitungen inspiriert. Es beinhaltet für sie nicht nur Furchterregendes sondern auch die Hoffnung auf eine andere, jenseitige Welt. Auf den Zornschalen träufelt ein lachender Tod die aus den Schalen tropfende Flüssigkeit, wohl den Zorn Gottes, auf die Erde. Auf schwarzem Grund rennen und fallen weiße Menschlein kreuz und quer durcheinander. Die Panik ist offensichtlich und berechtigt, denn links bricht die Erde bereits auseinander. Der schwarzen Fläche der Erde mit all der Aktivität wird zum Ausgleich ein weiter, weißer Himmel entgegengesetzt, in dem sich etwas aus der Mitte gerückt die Zornschalen eine über der anderen, nach oben hin immer kleiner werdend in der Raumtiefe des Himmels verlieren.
Für die Komposition ihrer Scherenschnitte wendet Ronny Willersinn viel Zeit auf. Auf Transparentpapier wird die Darstellung in Zeichnung erarbeitet. Damit die Endfassung nicht spiegelverkehrt entsteht, wird das Bild aus Scherenschnittpapier zusammen mit dem draufgelegten Transparentpapier geschnitten. Sie verwendet dazu eine Chirurgenschere. Dennoch kann sich während des Schneidens der Entwurf noch spontan verändern. Es kommt auch vor, dass das Bild in mehreren Versionen geschnitten wird, bis die Scherenschneiderin mit der Darstellung zufrieden ist. Sie selbst beschreibt den Schneidevorgang in einer Eröffnungsrede: Wenn ein Scherenschnitt entsteht, dreht sich ein Stück Papier so lange in der Hand und wird von der Schere bearbeitet, bis das Werk entstanden ist. Papier wir (sic) „weggeschnitzt“ – ein ganz anderer Vorgang als das Zeichnen, das Strich um Strich aufbaut. (Willersinn)
Der vollendete Scherenschnitt wird auf Büttenpapier geklebt. Die Schattenwirkung, wie sie beispielsweise bei Betrachtung des Originalschnittes der Apokalyptischen Reiter in den Lohen am linken unteren Bildrand zu sehen sind, wird dadurch erreicht, dass der Scherenschnitt nicht komplett festgeklebt wird. In diesem speziellen Falle unterstützt der Schattenwurf den Eindruck der züngelnden Flammen.
Ronny Willersinns Interesse an der Technik des Scherenschnittes reicht zurück in ihre Kindertage, wo sie die scherengeschnittene Bebilderung von Märchenbüchern faszinierte. Ihre ersten Werke waren Kopien dieser Abbildungen. Seit Ende der 80er Jahre entstehen eigene Entwürfe. In diese Zeit fällt auch der Beginn der regen Ausstellungstätigkeit in Einzel- und Gruppenausstellungen. Den Beginn markiert die Ausstellung „Schwester-Schatten“ im historischen Rathaus in Großbottwar, in der Nähe Stuttgarts. Dort ist die 1962 geborene Ludwigshafenerin Leiterin einer Pantomimegruppe. Für die Autodidaktin besteht eine Verwandtschaft zwischen den Ausdrucksformen der Pantomime und des Scherenschnittes, insofern nämlich, dass beide mit wenigen Mitteln auskommen, um das Wesentliche deutlich werden zu lassen. Der Scherenschneider muss seine Formen auf wesenhafte Haltungen reduzieren: Die Phantasie des Betrachters ist gefragt, das Wenige ist das wesentliche.(Ludwig)
Der ausgebildeten Diplomsozialpädagogin, die heute als Jugendreferentin im kirchlichen Dienst in Altrip arbeitet, ist diese „Mitarbeit“ des Betrachters, Erkenntnis und Kommunikation, ein großes Anliegen. Ihre vorwiegend zu Texten entstandenen Scherenschnitte, möchte sie nicht als reine Illustration sondern Interpretation verstanden wissen. Mit Rilke beispielsweise hat sich Ronny Willersinn zwei Mal beschäftigt, einmal mit seinen frühen Gedichten z.B. dem Stundenbuch, und später noch einmal mit seinen späteren Werken, z.B. dem Buch der Bilder. Die Abbildung illustriert die Zeilen: Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. Das Bild zeigt deutliche Anleihen aus der Kunst des Jugendstiles. Seine Formenwelt offenbart sich im Schmetterling ebenso wie in dem Frauenkopf, besonders in der Gestaltung der sich schlängelnden, verschlingenden Haare, wie sie der Jugendstil liebt. Anders als bei den Apokalyptischen Reitern werden hier auch Binnenschnitte verwendet. Die Drapierung des Mantels, der in Falten um das Nichts des Todes fällt, wird so definiert und auch der Schmuck des Frauenkopfes. Die dekorative Themenaufbereitung deutet eine Journalistin inhaltlich so: Der Tod breitet seine Arme aus, die Schöne in sein Reich zu geleiten. Sein Mantel gleich einem Tor aufgespannt, lässt den Blick frei auf den Schmetterling, der den Tod besiegt und die Gewissenheit auf Auferstehung verkörpert. (mimö)
Im Schaffen Ronny Willersinns spielt die Symbolik eine große Rolle. Sie weist verschiedenen Tieren und Dingen feste und tradierte Bedeutungen für ihren eigenen Bilder-kosmos zu. So verwendet sie den Kristall als Sinnbild für Reinheit und Klarheit, den Schmetterling für Auferstehung und neues Leben. In der christlichen Symbolik des Mittelalters wird der Kristall Maria zugeordnet, da er nicht selbst zu brennen vermag, aber ein durch ihn fallender Lichtstrahl etwas entzünden kann. In der Bibel symbolisiert der Kristall Reinheit, Geistiges und das Transzendente. So sind die Zinnen des neuen Jerusalem
(Jes 54,12) ebenso aus diesem Material wie der Thron Gottes in der Apokalypse. Der Schmetterling war bereits im Volksglauben der griechisch-römischen Antike das Symbol für die unsterbliche Seele und schon die frühchristliche Kirche sah ihn im Zusammenhang mit der Auferstehung. Auf protestantischen Friedhöfen des 17. Und 18. Jahrhunderts kann man den Schmetterling auf Grabsteinen finden. (Heinz-Mohr, Pifppert u. Lurker)
Im Jahre 2001 erschien außerdem das Märchenbuch Von der Königin die behaglich Tee zu trinken wünschte von Hanna Dunkel, das Ronny Willersinn mit ihren Scherenschnitten illustriert hat. Neben der Darstellung auf dem Titelblatt wird jede der 13 Geschichten mit mehreren Bildern versehen. Scherenschnitt aus dem Märchenbuch „Von der Königin, die behaglich Tee zu trinken wünschte“ „Die Burg der Dohlen“
In den Jahren zwischen 1993 und heute hat die Scherenschneiderin neben den Gemeinschafts-ausstellungen des Scherenschnittvereines sechzehn Mal in verschiedenen Städten im süddeutschen Bereich ausgestellt, wovon zahlreiche Ausstellungsbesprechungen, 23 an der Zahl, in Orts- und Tageszeitungen Zeugnis geben. Als Gründungsmitglied des Scherenschnittvereines erstreckt sich das Interesse allerdings über die eigene Kreativität hinaus. So ist Ronny Willersinn z.B. Autorin der Artikel über Elisabeth Emmler, Ruth Schaumann und Paula von Goeschen-Rösler in Schwarz auf Weiß 4, 13, und 19.
Für ihre nächste Ausstellung, die während der Fastenzeit im Ökumenischen Zentrum in Mannheim zu sehen sein wird, hat die Scherenschneiderin das erste Mal eine weitere Farbe in ihren Scherenschnitten integriert. Zusammen mit dem Ikonenmaler Hans-J. Veigel, mit dem sie bereits im Dezember 2000 gemeinsam ausgestellt hat, hat sie sich dem Thema „Kreuzweg“ angenommen. In Korrespondenz mit den Ikonen hinterlegt sie ihre Bearbeitungen mit Goldpapier. Eine andere neue Entwicklung wurde in Schwarz auf Weiß Heft 24 von Ronny Willersinn selbst erklärt. Es handelt sich dabei um eine Art Computer animierter Scherenschnittentwicklung, die in Korrespondenz zu gelesener Lyrik für die Zuhörerschaft auf die Wand projiziert wird.
Ausgewählte Literatur:
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers
Heinz-Mohr, Gerd: Lexikon der Symbole. München (1971) 1998
Jung, Elisabeth: Fernsehbeitrag für die Landesschau des SWR (gesendet 9.2.2000 19:30)
Ladwig, Sigrid: Phantasie des Betrachters gefragt. In: Rheinpfalz 16.3.1998 o.S.
Lipffert, Klementine: Symbolfibel. Kassel 1981
Lurker, Manfred: Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 1988
mmö: Die Dinge des Daseins und ein Stück Ewigkeit. In: Rheinpalz 9.9.00 o.S.
Willersinn, Ronny: Eröffnungsrede zu ihrer Ausstellung in Altrip im Sept. 02 (Typoskript)
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